„Der Mann des Buches“
Benyamin Rafael ben Yosef wurde 1870 in Adrianopel (heute Edirne) in der Türkei geboren. Über seine Mutter entstammt er einer Linie von Rabbinern, darunter Behmohar Rafael (1815-1878), Oberrabbiner von Adrianopel und später von Amts wegen Oberrabbiner von Philippopoli (in Rumelien in Bulgarien).
Als Liebhaber alter Bücher und Manuskripte widmete er sein Leben dem Djudezmo, einer Sprache, die immer mehr in den Familienbereich gedrängt wird und in der viele Wörter türkischen, italienischen und französischen Ursprungs enthalten sind.
Nach seiner Heirat zog er um 1895 nach Balat, einem jüdischen Viertel in Konstantinopel (Istanbul) am europäischen Ufer des Bosporus.
Während den drei ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde er als den wichtigsten Verleger von Konstantinopel betrachtet. Der Beginn seiner Tätigkeit als Drucker und Verleger wird auf das Jahr 1898 mit dem Erscheinen des Sefer me-‘Am Lo’ez Ester datiert.
In dieser Zeit entstand das Bedürfnis, zahlreiche Titel aus allen literarischen Genres ins Jüdisch-Spanische zu adaptieren und/oder zu übersetzen, darunter auch Romane – Paul und Virginie, Jardin des histoires (Garten der Geschichten), Le fils repenti (Der reuige Sohn), Les deux jumeaux (Die beiden Zwillinge), Don Miguel San Salvador, le neveu maudit (Der verfluchte Neffe), Salvator und Paolina, Juan Lobo, La belle histoire de Robinson ou Le veau d’or (Die schöne Geschichte von Robinson oder Das goldene Kalb) – die in der Regel zunächst als Fortsetzungsromane in der Presse veröffentlicht wurden
Neben seiner anerkannten Tätigkeit als Verleger war Benyamin Rafael ben Yosef ein echter Sammler alter Manuskripte und Bücher, eine Tätigkeit, die er auf seinen Reisen vor allem in den Nahen Osten entwickelte.
Der Bereich der Religion und der liturgischen Gesänge gehörte zu Benyamins bevorzugten Themen.
1910 gab er in Konstantinopel das Sefer jaim va-jesed (Sammlung von Gesetzen und Gebräuchen in Bezug auf Kranke und Tote) heraus; dreizehn Jahre später folgte die Herausgabe des Sefer renanot u-bakashot…
Benyamin, der sich für sephardische religiöse Lieder, insbesondere Pijjutim und Maftirim (religiöse Gedichte und Hymnen), begeisterte, bat 1926 Isaac Eliyahu Navon (Dichter, Musiker und Namensvetter des Politikers), der übrigens aus derselben Stadt stammte, um die umfassendste Zusammenstellung bekannter Maftirim. Die beeindruckende Veröffentlichung der „Lieder Israels im Land des Orients“ (Shire Israel be-Eretz ha-Kedem oder SHIBA) hat in religiösen Kreisen, bei Dichtern und Musikern auf sehr positive Kritik stoßen.
Eine der Titelseiten auf Jüdisch-Spanisch:
Diferentes Kantes Arekojidos de Manuskritos VyejosOvra de Poetas kon Kantes de Shabbath
i Moadim del Anyo
i Alegrias de Mila i BodasEl Editor, Vendedor de Livros Muevos i Viejos
Benyamin Rafael ben Yosef
Anyo 5686*
* „Verschiedene Lieder, die nach alten Manuskripten gesammelt wurden. Werke von Dichtern mit Liedern zum Schabbat, Moadim des Jahres, zur Mila und zur Hochzeit“
Zur gleichen Zeit gab Benyamin Rafael ben Yosef unter der Aufsicht des berühmten Chasans Isaac ben Solomon Algazi, der 1923 zum „Kantor“ und musikalischen Leiter der italienischen Synagoge in Istanbul im Stadtteil Galata ernannt worden war, eine Auswahl orientalisch-jüdischer Lieder mit dem Titel „Auszug aus dem Husseini-Fassil“ heraus: Diese Lieder enthalten die Referenzen des liturgischen Dichters Israel Nadschara und des berühmten Rabbiners aus Smyrna, Abraham Ha-Cohen Ariyas.
Bis in seine letzten Jahre gab Benyamin weiterhin religiöse Lieder heraus. Los piyutim de los dias temerosos aus dem Jahr 1927 erschienen erst zum Zeitpunkt seines Todes (Druckerei La Konkerensia).
Er bemühte sich auch um die Veröffentlichung von Sammlungen von Romansas, (Lieder und Gedichte für Bräute, Neugeborene und ihre Mütter), die nach den Sitten des Osmanischen Reiches herausgegeben wurden.
Neben Veröffentlichungen und Adaptionen von „klassischer“ Literatur, Veröffentlichungen bezüglich des religiösen Bereichs und Veröffentlichungen von „traditionellen“ Liedern in Djudezmo ließ es ihm Benyamin angelegen sein, auch Werke ins Jüdisch-Spanische zu übersetzen, die sich insbesondere mit sozio-politischen Themen befassen, wie z. B. Cinco anyos de mi vida, das über die Dreyfus-Affäre berichtete. Es war eine Überraschung, den Briefwechsel zwischen Dreyfus und seiner Frau Lucie auf Djudezmo lesen zu können. Tatsächlich baten Benyamins Kunden nach den Auswirkungen der Dreyfus-Affäre ihn darum, die „jüdisch-spanische Version“ der Geschichte in ihrer Bibliothek zu haben.
In einem besonderen Kontext der Verwischung kultureller Identitäten starb Benyamin Rafael ben Yosef, der einen wichtigen Beitrag zur sephardischen Kultur und ihrer Verbreitung leistete, 1928 unerwartet.
Quellen:
Biografie ergestellt nach:
– Den von Lydia Béhar-Velay (Enkeltochter von Benyamin Rafael ben Yosef) und ihrem Mann, Philippe Velay, belieferten biografischen Elementen
– dem Artikel „Le sauvetage familial d’une mémoire“ (die Familienrettung einer Erinerrung) von Lydia Béhar-Velay und Philippe Velay, im Kaminando I Avalando N°7, Rubrik Figures du Monde Sépharade veröffentlicht
Türkische synagogalen Musikaufnahmen (Maftirim…) anhören
Die Playlist über die Musik der türkischen Juden anhören