Symbolfigur des tunesischen Chansons
Von Hervé Roten
Raoul Journo wurde 1911 in Tunis geboren, und starb 2001 in Paris. Er war der Texter, Komponist und Sänger von mehr als 90 Lieder, die im dem reinsten Stil der orientalischen Musik geschrieben wurden. Er hatte eine kräftige Stimme und spezialisierte sich auf der Interpretation von Taâlil, diesen improvisierten Lobliedern bei Familienfeiern (Geburt, Beschneidung, Bar Mitzwa, Henna, Hochzeit…). Doch hinter der Musik steht die Geschichte eines Mannes, der das Schicksal erzwingen musste, um dem Elend zu entgehen.
Raoul Journo wurde am 18. Januar 1911 in einem Arbeiterviertel in Tunis geboren, wo Juden und Araber friedlich zusammenlebten. Seine Familie lebte in unzureichenden Bedingungen. Sein Vater war Anstreicher und verdiente kaum genug, um seine Familie zu ernähren. Und seine kleine Schwester starb im Alter von fünf Jahren an Entbehrungen und mangelnder Pflege.
Von Kindesbeinen an wurde Raoul Journo von der Musik und vom Gesang angezogen, zur Verzweiflung seiner Mutter, die sich wünschte, dass er Arzt oder Anwalt wird. Jedoch war es die melodiöse Stimme seiner Mutter, die Gedichte und Aroubis (gesungene nostalgische Gedichte) vortrug, die den jungen Raoul in seinem Wunsch bestärkte, Sänger zu werden. Der Gesang diente ihm als Ventil, um seine miserablen Lebensumstände zu überwinden.
Ab 9 ging er jeden Samstag ab 2 Uhr morgens mit seinem Vater zum Beten in zwei Synagogen. Seine melodiöse und kraftvolle Stimme, die die Sabbatgebete anstimmte, fesselte die Gläubigen und war seines Vaters Stolz. Nach seiner Bar Mitzwa im Jahr 1924, ging er in die Synagoge jeden Montag- und Donnerstagmorgen.
In den Cafés machte er sich mit den Melodien und Liedern seiner Zeit vertraut. Damals spielten die Cafébesitzer auf Grammophonen die Wachsplatten der wichtigsten modischen Sänger ab: Chiri El Hassanin, Zaki Mourad, Habiba Msika, Umm Kulthum, Cheikh Salama, El Abedih Chir El Chafti, Abdel Wab… An der israelitischen Schule der Hafsia besuchte er u.a. Gesangskurse bei Gaston Bchiri, der ihn Malouf-Stücke, ägyptische, tunesische und tripolitanische Lieder lehrte. Eines Tages ging Gaston Bchiri, der vom Talent seines jungen Schülers beeindruckt war, zu Raouls Vater und schlag ihm vor, dass sein Sohn ihn auf den Konzertabenden, bei denen er eingestellt war, begleitet. Doch sein Vater lehnte dies kategorisch ab. Zu dieser Zeit galt Sänger als ein Beruf für vulgäre und verdorbene Menschen.
Mit 15 Jahren war Raoul Journo gezwungen, die Schule zu verlassen, um eine Arbeit zu finden, mit der seine Familie überleben konnte. Fast sechs Jahre lang machte er verschiedene Umschlagarbeiten, und sang gleichzeitig weiterhin, wenn sich die Gelegenheit bot. Mit 17 kaufte er eine Oud (orientalische Laute) und beherrschte das Spiel schnell, ohne jemals einen Kurs besuchen zu haben. Er wurde schrittweise bekannter und immer häufiger für Auftritte gefragt, bei denen er manchmal mit Stars wie Habiba Msika zusammenarbeitete. Er besuchte auch regelmäßig die Konzerte von Louisia Tounsia.
Als Raoul Journo 18 Jahre alt wurde, war er sich seines Talents und seiner künstlerischen Möglichkeiten bewusst. Er hörte auf, in Cafés und miese Restaurants aufzutreten und nahm Gesangsunterricht. Mit 21 Jahren lernte er seine zukünftige Frau Émilie kennen, die ihn aufforderte, auf eine musikalische Karriere zu verzichten. Glücklicherweise begann er, seine ersten Erfolge als Sänger und Komponist bei Radio Tunis zu erzielen, wo er regelmäßig eingeladen wurde. Er wurde daraufhin in die SACEM aufgenommen und nahm 1933 seine erste Schallplatte unter der Leitung des berühmten Pianisten Messaoud Ahbib auf, der Dirigent und gleichzeitig Direktor des Plattenlabels Pathé Marconi war. Diese erste Platte, die in ganz Nordafrika ein großer Erfolg war, katapultierte Raoul Journo an die Spitze des Musikgeschäfts und ermöglichte es ihm endlich, von seiner Kunst zu leben.
1933 ging Raoul Journo an Bord eines Passagierschiffs in Richtung Paris. Nach einer Aufnahme von zehn Liedern bei Pathé-Marconi unterschrieb er bei Polydor zwei weitere Platten mit jeweils zehn Liedern. Nach seiner Rückkehr nach Tunis gründete er dank seiner in Paris erworbenen Bekanntheit sein eigenes professionelles Orchester und heiratete am 24. Juni 1934 Émilie, trotz ihres unterschiedlichen sozialen Hintergrunds.
Ihre erste Tochter Lyli wurde 1935 geboren, aber Raoul Journos Künstlergagen, von denen er einen Teil an seine Eltern abführte, reichten nicht aus, um dem Paar und ihrem Baby ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Raoul Journo, der immer noch Schwierigkeiten damit hat, eine Bezahlung für seine Auftritte als Sänger zu akzeptieren, war gezwungen, weiterhin nebenher zu arbeiten. Gleichzeitig setzte ihn der tunesische Rundfunk, wo er regelmäßig Hochzeitslieder vortrug, als Idol für arabische Hochzeiten durch. Auch Juden ersuchten ihn für Brit Mila, Bar Mitzwa, Henna, Hochzeiten und Geburtstage.
1938 wurde ihre zweite Tochter Simone geboren. Raouls Karriere war zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt, aber der Krieg und die Besatzung Tunesiens durch die Nazis beendete die Konzerte. Die Zeiten waren hart und die Mägen leer. Nach der Befreiung konnte Raoul seine künstlerischen Aktivitäten wieder aufnehmen. Er war häufig vom Bey und hohen Persönlichkeiten Tunesiens eingeladen.
Im August 1946 und Juni 1950 wurden zwei weitere Tochter geboren: Flavie und Dany. Raoul Journo unternahm triumphale Tourneen durch Marokko und Algerien. In Casablanca trat er mit Leïla Tounsia und Samy El Maghribi auf, nicht weit vom Kabarett Au coq d’or entfernt, in dem Salim Halalli sang.
1967 verlassen Émilie und Raoul Tunis, um zu drei ihrer Töchter zu ziehen, die sich in Paris niedergelassen hatten. Zu seiner Überraschung nahm er bereits 1971 eine Pariser Karriere mit seinem neuen Orchesterensemble Ari Bock auf. Er trat während Bar Mitzwas, Hochzeiten und anderen jüdischen Zeremonien auf, aber auch im französischen Fernsehen im Pariser Casino (1987), im Olympia (1991), oder auch in der Cité Bleue in Genf (1999).
Am 3. August 1980 wurde er vom tunesischen Präsident Bourguiba mit der Medaille des Kulturverdienstordens ausgezeichnet. Am 3. Oktober 1985 wurde er vom französischen Kulturminister Jack Lang zum Chevalier des Arts et des Lettres (Ritter der Künste und Literatur) ernannt.
Raoul Journo starb am 22. November 2001 im Alter von 91 Jahren. Er wurde in Jerusalem bestattet. Er komponierte während seiner langen Karriere mehr als 90 Lieder, von denen die meisten heute auf CD oder im Internet erhältlich sind.
Biografie: Raoul Journo, ma vie, par ma fille Flavie, Biblieurope, 2002, 236 S.
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- Hören Sie sich die von Hervé Roten moderierte Radiosendung – Jüdische Sänger aus Tunesien an
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