Lévy, Solly (1939-2020)

Hommage von Judith Cohen

Solly Lévy wurde am 1. November 1939 in Tanger (Marokko) geboren. 1968 wanderte er, mit seiner Frau Madeleine und ihrem ersten Kind Eddy, nach Kanada aus. Nach seiner Ankunft in Montreal, fand Solly Lévy seinen Platz in der sephardischen Gemeinschaft. Er war Lehrer an den Schulen der Alliance Israélite Universelle in Marokko und setzte seine Arbeit als Lehrer an einer Montrealer High School, über rund dreißig Jahre hinweg fort. Nach seiner Pensionierung, zogen Solly und Madleine nach Toronto, wo Solly weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb der sephardischen Gemeinschaft spielte und gleichzeitig neue Projekte ins Leben rief.

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Oro, Solly, Kelly & Judith ca 1982, Montreal

Als ich Solly vor vierzig Jahren kennen lernte, hatte ich gerade meine Doktorarbeit, an der Universität von Montreal, über sephardische Musik in Kanada, begonnen. Der bekannte Professor Samuel Armistead (1927-2013), hatte mich mit seiner ehemaligen Studentin, Professor Oro Anahory-Librozicz, einer Spezialistin der marokkanischen judäo-spanischen Romanze, bekannt gemacht. Oro war eine Schülerin von Sully in Marokko gewesen, an der Schule der Alliance Israélite Universelle in Tétouan. Sie wollte ein Ensemble gründen, welches judäo-spanische Lieder aus Marokko interpretierte. Solly, der den sephardischen Chorale Kinor leitete, lud die Solistin Kelly (Raquel) Sutan Amar ein, sich ihnen anzuschließen. Doch Oro war auf der Suche nach einem vierten spanischsprachigen Mitglied, welches außerdem auch traditionelle Instrumente spielen und dazu singen konnte. So kam es, dass eines schönen Morgens des Jahres 1980, Oro und Sully an die Tür meiner kleinen und etwas bohèmen Wohnung klopfte, die im alten Viertel „Mile End“ gelegen war; das war das erste Treffen der Gruppe, welche sich später „Gerineldo“ nennen sollte. Anschließend stieß noch der Geiger, Oud-Spieler und Perkussionist Charly Edry zur Gruppe.

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Gerineldo – Mariposa Folk Festival Toronto, ca 1984

Mit Gerinaldo sangen, übten und reisten wir: nach Spanien, in die Vereinigte Staaten und nach Israel. Solly sang auf der Bühne, natürlich versprühte er dabei seine legendäre Anziehungskraft und er schuf auch Stücke in Haketia, dem marokkanischen Judäo-Spanisch, das weit weniger bekannt ist als das osmanische Judäo-Spanisch, das heute oft „Ladino“ genannt wird. Er dirigierte diese Stücke, spielte dabei mehrere Rollen und brachte uns die Ausdrücke und die Aussprache der Haketia bei, welche ihm so sehr am Herzen lag. Stets kam er auf neue erstaunliche Ideen und hat mir in Bezug auf verschiedene Aspekte meiner Doktorarbeit, sehr geholfen. Solly lehrte uns viel und brachte uns auch zum Lachen – ich erinnere mich an Momente, in denen wir, die drei Frauen von Gerinaldo, den Kopf schüttelten und lächelten: „Das ist eben Sollys künstlerisches Wesen“.

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Gerineldo – Cordoba, 1992

In seinen musikalischen Theaterstücken erfand Solly Figuren, die uns ähnelten. Er selbst war natürlich Selomo, der Patriarch der Familie, welche im Marokko des beginnenden 20. Jahrhunderts angesiedelt war. Wir waren unsere eigenen Vorfahren: “los de embasho” (die von unten), “Los mizhores entre mozotros” (die Besten unter uns).  Solly spielte auch die Rolle des „modernen“ spanischen Arztes und des marokkanischen Kindes, das allen Familien des Viertels Dafina, ein Sabbatgericht, brachte. Oro hatte zwei Rollen: Maknin; die alte Großmutter, die ein traditionelles Leben lebte und der Enkel, der mit Selomo seine Bar-Mitsva vorbereitete. Unsere schöne Kelly, welche in Melilla geboren wurde und die ihren andalusischen Akzent nie verloren hatte, war Tsipora; die Schwiegertochter – mit ihrem andalusischen Akzent, den sie der Haketia vorzog. Und ich? Aschkenasisch, geboren in Montreal, englischsprachig, Musikethnologin, was könnte ich für eine Person darstellen? Zur damaligen Zeit hatte ich für meine Forschungsarbeit gerade Bouena Sarfatty Garfinkle[1]Bouena Sarfatty Garfinkle (1916-1997) wurde in Saloniki geboren und war eine griechische Partisanin während des Zweiten Weltkriegs.  Ihre Memoiren und Sammlungen von Liedern, Sprichwörtern und … Lire la suite aufgenommen, die mir vorgesungen hatte und mir von ihrem Leben vor und während des Holocaust erzählt hat. So erfand Solly „die Tia Palomba, eine Witwe aus Saloniki, die orientalisches Judäo-Spanisch sprach und die mit Nachdruck behauptete, dass die Lieder, die Gerichte und die Sitten von „Selanik“ besser seien als die von Marokko.

Solly engagierte sich voller Hingabe für seine Familie, seine Gemeinschaft, seine Kultur. Madeleine reiste oft mit uns; und ihre Tochter Claire half uns oft bei den Vorbereitungen hinter den Kulissen. Einige von Ihnen haben das Radiointerview gehört, das Hervé Roten mit meiner Tochter Tamar Ilana geführt hat; nun, ihr allererster „Auftritt“ war eine kurze Aufnahme ihres Weines, als sie zwei oder drei Monate alt war. Solly hatte mich um diese Aufnahme für die Geburtsszene des Babys in dem ersten Stück gebeten, welches er für Gerinaldo auf die Beine stellte: Ya Hasrá, que tiempos aquellos [So wird es in jenen Tagen sein] Tamar war bei fast jeder Probe dabei und begann im Alter von fünf Jahren, mit uns zu singen. Von Zeit zu Zeit spielten zwei von Oros Nichten Rollen und auch Kellys Ehemann und ihre Söhne verpassen nie eine Aufführung in Montreal: Gerinaldo war wirklich eine Familie.

Nach der Pensionierung im Jahr 2000, zogen Solly und Madleine nach Toronto, um näher bei ihren Söhnen und Enkeln zu sein. Doch für Sully bedeutete der „Ruhestand“ natürlich, ohne zu zögern, eine wichtige Rolle in seiner sephardischen Gemeinschaft zu übernehmen und eine Reihe neuer künstlerischer Projekte zu starten. Einerseits sammelte er traditionelle Pijjutim aus Nordmarokko; gleichzeitig schuf er seine mehrsprachigen “Sollyloquies”/”Sollyloquios”, welche uns zum Lachen brachten und „Jizzofrenia“, seine „One-man-Shows“ – ein Name, der auf einem Wortspiel des judäo-spanischen Worts „khiz“ basiert, was „Karotte“ bedeutet.

Gerinedo, trois générations
Gerineldo, 3 generations – Toronto, 2014 Judith, Oro, Solly, Tamar & Matan

Zwischen seinen vielen anderen Projekten, für welche er zahlreiche Ehrenpreise erhalten hat, übersetzte – und adaptierte – er Auszüge aus Molière ins marokkanische Judäo-Arabisch/Quebecer Französisch/Haketien. Aus „Le Bourgeois Gentilhomme“ wurde so beispielsweise „Le Boujadi Gentilhomme“. Er adaptierte auch „Pygmalion“ von Georges Bernard Shaw, mit allen Liedern. Er dirigierte auch Klassiker des Quebecer Theaters und baute Brücken zwischen den jüdischen und katholischen Gemeinschaften in Quebec. Ich erinnere mich noch daran, wie ich an einer Probe seiner Adaptation von „West Side Story“ für das französisch-/englischsprachige Umfeld Montreals teilnahm: Jeder Student musste eine Hauptrolle, eine Nebenrolle und eine technische Rolle lernen, um alle Aspekte des Theaters kennenzulernen. In den Jahren 2014 und 2015 trat Gerineldo bei einigen, wenigen Gelegenheiten auf. Solly sang bei Konzerten in Paris, für die marokkanische jüdische Gemeinschaft und später in Toronto in der Alliance Française. Bei letzterem Auftritt in Toronto standen drei Generationen auf der Bühne: Tamar hatte bereits Kellys Platz eingenommen, die nicht verfügbar war und Matan Boker, Sollys Enkel, bereicherte durch seine schöne Stimme die Pijjutim, welche ihm sein geliebter Großvater beigebracht hat. Doch handelte es sich hierbei um Sollys letztes Konzert. Seine gesundheitlichen Probleme hinderten ihn daran, mit uns beim Sefarad Festival von Montreal aufzutreten, welches er Jahrzehnte zuvor mitbegründet hatte; auch am in Paris stattfindenden Festival des Musiques Juives konnte er nicht mehr teilnehmen. Seine lange und unerbittliche Krankheit hinderte ihn an dem, was er so sehr liebte, doch konnte nie seine Beziehung zu seiner Gemeinschaft, welche alles für ihn und seine Familie getan hat, unterbrechen; ganz zu schweigen von der tiefen Liebe, die er zu allen Zeiten mit Madeleine, ihren Söhnen und Enkeln teilte.

Solly Lévy verließ uns am 10. Mai 2020, während dem Pessach-Fest…

Lesen Sie den Artikel über Gerineldo und hören sie sich die enthaltene Playlist an
Lesen Sie den Artikel der Zeitung « Canadian Jewish News » über das Leben von Solly Lévy
Greifen Sie auf die Internetseite von Judith Cohen zu

Schauen Sie sich einen Ausschnitt der Dokumentation A Sephardic Journey: Solly Levy… From Morocco to Montreal an


References
1 Bouena Sarfatty Garfinkle (1916-1997) wurde in Saloniki geboren und war eine griechische Partisanin während des Zweiten Weltkriegs.  Ihre Memoiren und Sammlungen von Liedern, Sprichwörtern und Versen sind wertvolle Zeugnisse des jüdischen Lebens in Saloniki. Sie und ihr Mann wanderten 1947 nach Kanada aus.

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