Drei Pessach-lieder: Adir Hou, E’Had Mi Yodea und ‘Had Gadya

Von Hervé Roten

Seit dem 15. Jahrhundert, wenn nicht gar früher, ist es der Brauch, den Seder, das Essen des Abends von Pessach, mit drei Liedern ausklingen zu lassen, welche sowohl auf Hebräisch (oder auf Aramäisch) als auch in der judäo-spanischen Sprache des jeweiligen Landes (Jiddisch, Judäo-Arabisch, Judäo-Spanisch) gesungen werden.

Diese Lieder mit einem volkstümlichen Charakter und einer aufzählenden oder kumulativen Form, feiern die Überlegenheit und Güte Gottes.

Wie Freddy Raphaël und Robert Weyl in ihrem Artikel Regards nouveaux sur les Juifs d’Alsace [1]Freddy Raphael und Robert Weyl, Regards nouveaux sur les Juifs d’Alsace, Ed. des dernières nouvelles d’Alsace, Strasbourg, 1980, 311 p.,
betonen, scheint es „vergeblich, nach den exakten Quellen dieser Lieder zu suchen, welche notwendigerweise Teil der kulturellen Bevölkerungsbewegung sind, in der sich die jüdischen Gemeinschaften begründeten. Man vergleicht zu Recht, das Had Gadja, das Lied vom kleinen Lämmchen, mit deutschen und französischen Zählliedern des 12. und 13. Jahrhunderts.“

Selon Léopold Zunz [2]Leopold Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, Berlin, 1832, p. 126., der im Artikel von Freddy Raphaël und Robert Weyl zitiert wird, sollen die drei Pessach-Lieder Adir hou, E’had mi yodéa und ‘Had gadya zunächst in die aschkenasische Pessach-Erzählung eingeführt worden sein, bevor sie sich schließlich in allen jüdischen Gemeinschaften verbreiteten.

ADIR HOU
Freddy Raphaël und Robert Weyl präzisieren [3]Freddy Raphael et Robert Weyl, op. cit.: „Adir Hou ist ein hebräischer Lobgesang, welcher so komponiert ist, dass die Buchstaben, in Form eines Akrostichon erscheinen. Es begegnet uns bereits, in seiner judäo-deutschen Form, in einem Manuskript aus dem 15. Jahrhundert [4]Yosef ‘Hayim Yerushalmi, Haggadah and History, Planche 37, Philadelphia, 1975. Das Lied wurde erstmals am Ende der Haggada von Prag abgedruckt, später dann in der von Mantua und wurde schließlich auch in die judäo-italienische Ausgabe der Haggada aufgenommen, welche 1609 in Venedig veröffentlicht wurde. Die Juden von Avignon sangen dieses Loblied zu jedem bedeutenden Festtag, ohne eine besondere Verbindung zu Pessach herzustellen.  (…)“

Refrain:

1. Möge Gott das Bet Mikdash bald erbauen, Rasch in unserer Zeit, bald. Gott – baue; Gott baue, Baue bald dein Haus!


2. Erhaben ist Gott, Groß ist Gott, Überragend ist Gott (Refrain)
3. Herrlich ist Gott, Treu ist Gott, Würdig ist Gott (Refrain)
4. Gütig ist Gott, Rein ist Gott, Einzigartig ist Gott (Refrain)
5. Herrlich ist Gott, Stark ist Gott, Mächtig ist Gott (Refrain)
6. Herrlich ist Gott, Stark ist Gott, Mächtig ist Gott (Refrain)
7. Barmherzig ist Gott, Allmächtig ist GottEntschlossen ist Gott,
8. Möge Gott bald das Bet HaMikdasch bauen,  Rasch in unserer Zeit, bald.  Gott – baue; Gott – baue Baue bald dein Haus!

E’HAD MI YODEA – Zahlenlied
Noch nach Freddy Raphaël und Robert [5]Freddy Raphael et Robert Weyl, op. cit. : „Das Gedicht E’had mi yodéa wurde auf Hebräisch verfasst und enthält einige aramäische Wörter. Ein Schriftstück von 1406 besagt, dass man es auf einem Pergament in der Synagoge, des Rabbi Eleazar ben Kalonymos von Worms gefunden hat. Letzterer wurde um 1176 in Mainz geboren und starb 1238 in Worms; er war ein bedeutender Talmudist und Kabbalist. Eines seiner bedeutendsten Werke, Ha-Roqea‘, ist sowohl halachisch wie auch ethisch.“

1. Wer kennt eins? Ich kenne eins. Eins ist unser Gott, im Himmel wie auf Erden.
2.
Wer kennt zwei? Ich kenne zwei. Zwei sind die Tafel der Gebote.  Einig ist unter Gott…

Es geht so immer weiter bis zum letzten Vers:

13. Wer kennt dreizehn? Ich kenne dreizehn. Dreizehn sind die göttlichen Prinzipien; Zwölf sind die Stämme Israels; Elf sind die Sterne in Josefs Traum; Zehn sind die Gebote; Nein sind die Monate der Schwangerschaft; Acht sind die Tage vor der Beschneidung; Sieben sind die Tage der Woche; Sechs sind die Abschnitte der Mischna; Fünf sind die Bücher der Tora; Vier sind die Matriarchinnen; Drei sind die Patriarchen; zwei sind die Tafeln der Gebote; Eins ist unser Gott, im Himmel wie auf Erden.

 

playlist.jpgHören Sie sich die Playlist Echad mi yodea an, gesungen in den verschiedenen jüdischen Traditionen

 

‘HAD GADYA – Das Lied vom kleinen Lämmchen
Laut Freddy Raphaël und Robert Weyl[6]Ibid., idem. : handelt es sich hierbei, um das letzte der drei Pessach-Lieder. „Das ‘Had Gadya, das Lied vom kleinen Lämmchen, wurde erst 1590 in die gedruckte Ausgabe der Haggada von Prag aufgenommen und kam in der vorausgegangenen Ausgabe von 1526 nicht vor.

Ein Lämmchen, ein Lämmchen,
Das mein Vater gekauft hat;
Für zwei Münzen, ein Lämmchen. (Refrain)

Da kam das Kätzchen
Und fraß das Lämmchen,
Das mein Vater gekauft hat;
Für zwei Münzen gekauft hat, ein Lämmchen.

Da kam das Hündchen
Und biss das Kätzchen,
Das das Lämmchen fraß,
Das mein Vater gekauft hat…

Die neunte Strophe, bei welcher es sich auch um die letzte handelt, fasst die Gesamtheit der Strophen zusammen:

Da kam der Heilige, und erschlug den Todesengel, der den „Schochet“ schächtete, der den Ochsen schächtete, der das Wässerchen trank, das das Feuerchen löschte, das das Stöckchen verbrannte, das das Hündchen schlug, das das Kätzchen biss, das das Lämmchen fraß, das mein Vater gekauft hat, für zwei Münzen ein Lämmchen, ein Lämmchen.

Wie bei E’had mi yodea heißt es in dem zuvor erwähnten Schriftstück von 1406, dass dieser Text, die Synagoge von Rabbi Eleazar ben Jehuda ben Kalonymos von Worms schmückte. Durch die Untersuchung einer aschkenasischen Haggada aus der Sereni-Sammlung aus dem fünfzehnten Jahrhundert, welche sowohl die aramäische als auch die judäo-deutsche Fassung des ‘Had Gadya enthält, konnte Ch. Szmeruk [7]In W. Weinrich, The Field of Yddisch, New York, 1954, pp. 214-218.

bestätigen, dass am gegen Ende dieses Jahrhunderts, das Lied vom kleinen Lämmchen, Teil der Pessach-Erzählung geworden war. E.D. Goldschmidt erwähnt die Position des Gaon ‘Hida (Haym Joseph David Azoulay), eines Kabbalisten und Hala’khisten (Entscheidungsträger) aus Jerusalem, den die Juden des Osmanischen Reichs und Italiens im achtzehnten Jahrhundert für den bedeutendsten Gelehrten ihrer Zeit hielten. Er kritisiert einen seiner Schüler dafür, dass er aschkenasische Juden für das Rezitieren von Had Gadya verspottet hatte; er verwies auf die Lehre des Ari (Rabbi Issac Louria de Safed), um die tiefe Weisheit dieser Gedichte zu rühmen; er rief in Erinnerung, dass die „Giganten“ der Tora, sie zur Grundlage unzähliger Bemerkungen jeder Generation machen.

Obwohl sich das Thema von Had Gadya in vielen Legenden der westlichen und östlichen Folklore, von der Kabylie bis zur Siam in Indien, wiederfindet, scheint es dennoch von einem deutschen Volkslied abzustammen: Der Bauer schickt den Jockel aus.

Der Bauer schickt den Jockel ’naus
Er sollt den Hafer schneiden
Der Jockel, der wollt den Hafer nicht schneiden
Wollt lieber zu Hause bleiben

Der Bauer schickt den Hund ’naus,
Er Sollt‘ den Knecht beißen.
Der Hund, der wollt den Knecht nicht beißen…

Der Bauer schickt den Knippel ’naus,
Er sollte den Hund schlagen.

Der Bauer schickt das Feuer ’naus,
Es sollt‘ den Knippel brennen.

Der Bauer schickt das Wasser ’naus,
Es sollt‘ das Feuer löschen.

Der Bauer schickt den Ochsen ’naus,
Er sollt‘ das Wasser saufen.

Der Bauer schickt den Fleischer ’naus,
Er sollt den Ochsen schlachten,

Im weiteren Verlauf treten ein Raubvogel, eine Hexe, ein Henker und ein Arzt auf.

In der Schweiz erzählt das Lied vom Narren, der zum Birnenpflücken geschickt wird: Joggeli sott go Birreli schüttle. K. Kohler [8]K. Kohler, Sage und Sang im Spiel Jüdischen Lebens, in Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, T.3, Braunschweig, 1889, pp. 234-241. erwähnt ein elsässisches Lied, welches ähnlich aufgebaut ist: S’schemol e Frau g’sinn. Die hat e Schnirrchele g’hat.

Es war einmal eine Frau, die hatte ein Ferkel, das das Opfer des Hundes wurde; dieser wiederum wurde das Opfer des Stocks, der Stock das Opfer des Feuers, das Feuer das Opfer des Wasser, das Wasser das Opfer der Kuh, die Kuh das Opfer des Metzgers und letzterer das Opfer des Bullen.

Vom Rheintal aus, verbreitete sich das Lied des kleinen Lämmchens in seiner aramäischen, mit hebräischen Wörtern versehenen Fassung, bis nach Venedig und Amsterdam; in Südfrankreich wurde es ins Provenzalische, ins Languedokische und in Gascon [9]G. Paris, in Romania, t. 1 n° 4, octobre 1872, p. 223. übersetzt; in Nordafrika sangen es die aus Spanien stammenden Familien auf Ladino, die Juden aus den Dörfern und Oasen vor der Sahara, rezitierten es auf Arabisch.

Die judäo-spanische Fassung: Un kavretiko, Ke me Io merkó mi padre, por dos aspros[10]‘aspron bedeutet “Penny” auf Griechisch (von ‘Aspros, weiß)., por dos levanim[11]“laban, lebanim ”bedeutet auf Hebräisch: weiße, silberne Münzen. …wird ebenso in Instanbul und in Saloniki gesungen, wie auch bei den sephardischen Juden aus Los Angeles.“

playlist.jpgHören Sie sich die Playlist Had Gadya an, gesungen in den verschiedenen jüdischen Traditionen

 

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Schauen Sie sich im Folgenden zwei Videos von Had Gadya an, das Erste auf Jiddisch, das Zweite auf Ladino.

References
1 Freddy Raphael und Robert Weyl, Regards nouveaux sur les Juifs d’Alsace, Ed. des dernières nouvelles d’Alsace, Strasbourg, 1980, 311 p.
2 Leopold Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, Berlin, 1832, p. 126.
3 5 Freddy Raphael et Robert Weyl, op. cit.
4 Yosef ‘Hayim Yerushalmi, Haggadah and History, Planche 37, Philadelphia, 1975
6 Ibid., idem.
7 In W. Weinrich, The Field of Yddisch, New York, 1954, pp. 214-218.
8 K. Kohler, Sage und Sang im Spiel Jüdischen Lebens, in Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, T.3, Braunschweig, 1889, pp. 234-241.
9 G. Paris, in Romania, t. 1 n° 4, octobre 1872, p. 223.
10 ‘aspron bedeutet “Penny” auf Griechisch (von ‘Aspros, weiß).
11 “laban, lebanim ”bedeutet auf Hebräisch: weiße, silberne Münzen.

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